Anfang Juni 2009 nahm der Österreichische Internetrat seinen Dienst auf. Dieser hat sich einer Online-Ethik sowie der freiwilligen Selbstkontrolle verpflichtet und gibt Empfehlungen für moralisches Verhalten im Web.
In kaum einer anderen Situation werden die Grenzen des Anstands, Respekts und des guten Geschmacks so aufgeweicht wie im Web 2.0, wo praktisch jeder Nutzer Inhalte publizieren, verbreiten, neu verknüpfen und verlinken (entkontextualisieren), kommentieren und bewerten kann. Der Frage nach moralisch "richtigem" Online-Verhalten und dem Einhalten ethischer Prinzipien gebührt daher eine besondere Betrachtung.
Zu diesem Zweck wurde Anfang Juni 2009 der Österreichische Internetrat ins Leben gerufen. Selbstbewusst berichteten die fünf Gründungsmitglieder des ÖIR damals von ihren lobenswerten Zielsetzungen, der geplanten Arbeitsweise und ihrem ethischen Selbstverständnis. Allerdings ergeben sich bei einem näheren Blick meiner Meinung nach ethisch problematische Aspekte, die in die Diskussion um eine Online-Ethik einfließen müssten.
"Exklusive" Abmahnungen bei Ethik-Verstößen
Das Ziel der freiwilligen Selbstkontrolle steht im krassen Widerspruch zur Gründung einer externen Organisation durch Einzelne, die - quasi von außen - "Internet-Surfer dazu bringen [möchten], sich näher und enger mit dem Konzept der freiwilligen Selbstkontrolle auseinanderzusetzen" (futurezone.orf.at). Die Nutzung einer gemeinsamen technischen Infrastruktur (dem Internet) alleine macht niemanden zum Teil einer virtuell-sozialen Gemeinschaft. Auch die Diktion des ÖIR entspricht nicht dem angepriesenen Konzept: Abmahnungen, Ermittlungen und Verurteilungen können nicht Teil eines ethischen Programms und schon gar nicht eines zur freiwilligen Selbstkontrolle sein.
Gleichzeitig beschwichtigt der ÖIR, keine "normative Ethik" für das Internet erarbeiten zu wollen. Dabei wird Medienethik durchaus als "normbegründend" verstanden (vgl. Funiok 2002; in: Karmasin 2002: Medien und Ethik) - und zwar in der Hinsicht, die Logik moralischer Normen und praktizierter Handlungsweisen zu erörtern (und eben zu begründen). Es wäre daher die Aufgabe einer ernstzunehmenden Kontrollinstanz, die moralischen Normen und Werte innerhalb einzelner Online-Communities zu thematisieren, um auf diese Weise eine integrierte Reflexion anzuregen, anstatt auf (Beschwerde-) "Eingaben" mit moralischen Urteilen zu reagieren.
Doch dazu bedarf es interner, transparenter Diskurse, die von einer möglichst breiten Basis getragen werden. Ein gutes Beispiel für diese Vorgehensweise bieten die unzähligen partizipativen Angebote im Web 2.0, wie zB. Diskussionsforen, die wir alle kennen, wenn wir im Web nach Hilfe bei technischen Problemen suchen oder uns über spezielle Interessen austauschen möchten. In solchen Foren sind übrigens so gut wie immer Kodizes etabliert, die Verhaltensnormen für Teilnehmer verbindlich machen - ebenso wie die bis ins kleinste Detail ausgefeilten Geschäftsbedingungen aller großen Web-2.0-Plattformen wie Facebook oder Twitter. Die Notwendigkeit (und Reichweite) zusätzlicher Leitfäden, erstellt von externen, nationalen "Arbeitsgruppen", ist daher stark begrenzt.
Das Web 2.0 stellt aus ethischer Sicht zweifellos eine besondere Herausforderung (für alle Akteure) dar. Gleichzeitig ermöglicht das "social web" wie kein anderes Medium zuvor die Integration aller Interessensgruppen und ihre Teilnahme am ethischen Diskurs (zB. vgl. Karmasin & Winter 2002; in: Karmasin 2002). Denn eine angewandte Online-Ethik, oder: Ethik 2.0, kann nicht von außen agieren, um "innere Steuerungsressourcen" (Funiok 2002) zu etablieren.
Leider lädt die ÖIR-Website aber durch ihre Exklusivität ganz und gar nicht zum breiten Diskurs und Austausch ein, sondern sieht sich als selbstlegitimierte Institution zur Ahndung von Ethikverstößen. Auch die Imitation verstaubter, österreichischer Bürokratie (Ethik-Beschwerden haben mittels Eingabe zu erfolgen) trägt nicht zur Öffnung der Kommunikation bei. Obendrein impliziert die Verwendung von visuellen Gerichtsmetaphern einen weiteren ethischen Widerspruch. Es entspringt offenbar dem Kommunikationskonzept, dass von der angeblichen "Eingabeflut" bisher kaum ausgearbeitete Empfehlung einsehbar und nachzulesen sind (womit ihr Potenzial zur Bewusstseinsbildung ungenutzt bleibt und "Transparenz" zum guten Vorsatz verkommt) sowie, dass lediglich der Vorstand, nicht aber etwaige weitere Mitglieder identifizierbar sind, und nicht zuletzt der Umstand, dass kein Kommunikationsraum für den informellen Austausch Beteiligter und Betroffener geboten wird, zB. in Form eines moderierten Diskussionsforums. Die Linkliste, hinter der man thematisch relevante Ressourcen vermuten würde, enthält lediglich Verweise auf die Websites einzelner Gremiumsmitglieder. Damit ist der Österreichische Internetrat von einer ernstzunehmenden Ethikinstanz weit entfernt.
Mehr Biss, weniger Zwist
Man hätte der Initiative für ein wachsendes Ethik-Bewusstsein unter Web-Nutzern eine durchaus sympathischere - und damit wirkungsvollere - Publizität spendieren können. Im Web 2.0, das vornehmlich zur Selbstvergewisserung, Identifizierung und Selbstdarstellung verwendet wird (Kommunikation erfüllt all diese Aufgaben), lässt man sich nur ungern von außen diktieren, was "gut" und "richtig" zu sein hat. Nicht umsonst flüchtet man sich in den virtuellen Raum zur ungehemmten Meinungsäußerung. Was ich mir von einer entsprechenden Initiative also erwartet hätte:
Selbstkontrolle muss von innen, von den Nutzern, den Institutionen und letztendlich der Gesellschaft selbst kommen und besteht nicht aus "Urteilssprüchen" gegen unmoralische Praktiken im Web-2.0. Eine aktualisierte Medienethik kann meiner Meinung nach nur dezentral konzeptioniert sein und muss vor allem aus einem Miteinander aller Interessensgruppen hervorgehen.
Immerhin, eines hat das Projekt "ÖIR" geschafft, nämlich die Thematisierung einer stets aktuellen Problematik.
Samstag, 26. September 2009
Ethik 2.0
Von Gregor T. um 22:42
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