Dienstag, 23. November 2010

Keine Werbung auf Facebook!

Umsatzsteigerung, Awareness, Bekanntheitsgrad und "Relevant Set" sind Schlagworte, die hinter fast jeder Werbestrategie stehen. Auf Facebook sollte man seine Erwartungen aber im Zaum halten...

Monoton agiert die Online-Werbeindustrie im Hype: "Facebook" quakt es aus allen social-media-verliebten Agenturköpfen. In den Atempausen kollektiven Jubels hört man den einen oder anderen vorsichtig "Twitter", "Foursquare" oder "Mobile Marketing" flüstern, bis das Geschrei von Neuem startet: Facebook-Apps, Facebook-Mail, Social-Media-Strategien braucht die Wirtschaft - vom Gemüsehändler bis zum Schwermetallkonzern. Anstatt im Web herum zu surfen, würden sich mindestens 500 Millionen Menschen jetzt viel lieber innerhalb des eng gesteckten Facebook-Territoriums bewegen, um sich unentwegt durch Apps zu klicken und sich vom "branded entertainment" unterhalten zu lassen.

Nein, danke!


Doch Werbung hat auf Facebook nichts verloren, und zwar aus folgenden Gründen:

  • Facebook ist kein Werbemedium. Die Plattform funktioniert, weil sie soziale Handlungen ermöglicht und dadurch grundlegende Bedürfnisse in einer immer unübersichtlicher werdenden Gesellschaft (Globalisierung, Migration, Wertepluralismus, Individualisierung) zu befriedigen vermag. Auf Facebook wird interagiert, imitiert, imponiert, distinguiert, persifliert - und sich identifiziert. Ein Blick auf Social-Media-Plattformen wie Facebook und Twitter, MySpace und andere zeigt: Es geht in erster Linie um Selbstvergewisserung und die Beantwortung elementarer Fragen wie: Wer bin ich? Wie bin ich? Wie bin ich in Relation zu anderen? Wo gehöre ich dazu? Wer gehört nicht dazu? Facebook ist ein riesiger Setzkasten mit Identitätsbausteinen (zB. vgl. Döring 2003, S. 161ff).

  • Werbung nervt - meistens in Massenmedien, für deren Konsum wir gelernt haben, Persuasionsversuche in Kauf zu nehmen, und erst recht nervt sie dann, wenn wir mit Wichtigerem beschäftigt sind. Wenn wir dabei sind, uns über die Befindlichkeiten innerhalb unseres virtuellen Freundeskreises zu informieren, empfinden wir Kauf- und Nutzungsempfehlungen kommerziellen Ursprungs bestenfalls als lästiges Rauschen. Denn dafür klickt sich niemand in Facebook.

  • Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, mittels Facebook-Page Erstkontakte zu potenziellen Neukunden herzustellen? Es gibt zwar Suchmöglichkeiten für und auf Facebook, aber wer würde dort nach einem Installateur, einem Mechaniker oder dem günstigsten PC-Angebot suchen? Und auch mein Lieblingsjoghurt habe ich nicht auf Facebook kennen und lieben gelernt.

  • Jahrzehntelange Medien- und Werberezeption hat den Menschen gelehrt, sich auf seine selektive Wahrnehmung zu verlassen. Auf Facebook hat man nur ein Auge für bekannte Gesichter (vgl. Felser 2001, S. 124f oder vgl. Scheier & Held 2007, S. 47ff).

  • Und schließlich könnte man als Werbetreibender auf dem Standpunkt stehen, sich durch rigorose und gleichzeitig gummiartige Promotion-Richtlinien auf Facebook nicht in seiner Kreativität beschneiden lassen zu wollen. Gewinnspiele ohne jegliche Bedingung (also auch keine Beantwortung von Gewinnfragen?) kann ich genauso gut per Flyer veranstalten, und auf der eigenen Unternehmenswebsite kann ich ohnehin uneingeschränkt kreativ experimentieren.

  • Ja, bitte!

    "Humbug", höre ich Experten, "Gurus" und andere Social-Media-Fans meine Argumentation kommentieren - während einer kurzen Atempause kollektiven Jubels. Und es wäre schade, ginge dadurch das leise Geflüster über Twitter und Mobile Marketing unter. Denn natürlich macht es Sinn, auch Facebook mit einem Teil des Werbebudgets zu bedenken, und zwar aus einfachen Gründen:

  • Facebook hat das Weiterempfehlen revolutioniert: Man muss nicht mehr darauf warten, von Ratsuchenden um seine Meinung gebeten zu werden, sondern tut vorweg schonmal per Mausklick kund, was gefällt. In den Genuss teilautomatisierter Marken- und Produktempfehlung kommt selbstverständlich nur, wer auch auf Facebook präsent ist oder sich zumindest Gedanken darüber gemacht hat, von der "Gefällt mir"-Funktion in Form eines Facebook-Buttons auf einzelnen Webseiten Gebrauch zu machen.

  • Marken transportieren Bedeutungen. Bedeutungen werden im sozialen Kontext von ihren Nutzern ausgehandelt (zB. vgl. Scheier & Held 2007, S. 31f). Um Bedeutung zu erlangen, muss man sich der Community (bestehend aus Kunden und Zielgruppen) zur Verfügung stellen, muss sich nutzen, kommunizieren, kommentieren, mitunter auch diffamieren lassen. Auf Facebook kann man - ein Mindestmaß an Selbstvertrauen vorausgesetzt - seinem Klientel also den Ball in die Hand drücken mit der Aufforderung, damit zu spielen.

  • Und am besten sieht man dabei zu, denn: Werbung und Marketing beobachten seit je her, was Menschen mit Angeboten (materiellen und immateriellen) tun (zB. vgl. Zurstiege 2005, S. 10f & S. 194ff). So wie (traditionelle) Medien nicht "asozial" sein können, weil soziale Systeme Teil ihres Gegenstands sowie ihres Umfelds sind, ist Werbung von Natur aus sozial: Sie muss auf Bedürfnisse reagieren, Nutzungsweisen, Handlungsweisen und Ausdrucksweisen erkennen, imitieren, instrumentalisieren. All dies ließe sich kaum einfacher beobachten und analysieren als auf Facebook und Twitter.

  • Auch wenn Facebook als "Persuasionsmedium" nicht uneingeschränkt für jede Branche und jedes Produkt gleichermaßen erkenntnisbringend wirkt, zahlt sich der verhältnismäßig geringe Einsatz von Zeit und Geld aus, um unter anderem auch dort präsent zu sein. Und lässt sich dadurch in Jahren nur ein einziger Neu- oder gar Stammkunde gewinnen, so lassen sich Zeit und Geld für Werbung ungleich zweckfreier vergeuden.


  • Kurz: Wer in Facebook - oder anderen "sozialen" Medien - eine Revolution der Online-Werbung sieht, wird schnell über zu hohe Erwartungen stolpern. Sein heilbringendes Potenzial kann noch so intensiv und meist lautstark beschworen werden: Werbung hat auf Facebook nichts verloren.

    Mittwoch, 20. Oktober 2010

    Das Ausländerproblem, ein Bildungsproblem?

    Die Gemeinderatswahl in Wien ist seit einiger Zeit geschlagen. In der Schlacht auf unterstem politischen Niveau kam vor allem ein Thema zum Einsatz. Doch was bedeutet das "Ausländerproblem"?

    Die Fakten: Österreich beheimatet rund 1,29 Millionen Immigranten unterschiedlichster Herkunft und Staatsangehörigkeit. Ein beachtlicher Teil konzentriert sich in Wien, wo ca. 513.000 Nicht-Österreicher leben. Die größten Anteile stellen Serben, Montenegriner und Kosovaren, mit über 100.000 Menschen, und Deutsche, von denen knap 40.000 in der Hauptstadt zuhause sind (Stand 01.10.2010, vgl. Statistik Austria). Wo genau ist das Problem?

    Das "Ausländerproblem", wie es wahrgenommen und instrumentalisiert wird, sowie die oft zitierte Angst vor einer "Überfremdung" Österreichs haben andere Ursachen als Hautfarben und bunte Kopftücher. Sie sind das Symptom eines tiefergreifenden Missstandes: Das "Ausländerproblem" ist eigentlich ein Bildungsproblem.

    Bildung nimmt die Angst

    Warum ist das propagierte Problem stetiger Zuwanderung und "Überfremdung" bis zum prophezeiten Verlust nationaler Kultur und Identität ein Bildungsproblem?



  • Das "Fremde" ist ein Mittel zur Distinktion, also zur Abgrenzung der eigenen von anderen Identitäten. In einer zunehmend globalisierten Weltgesellschaft mit uneingeschränkten Kommunikations-, Reise-, Handels- und anderen Interaktionsmöglichkeiten entwickelt sich ein schärferes Bewusstsein für die übrig gebliebenen Unterscheidungsmerkmale, allen voran die eigene kulturelle Identität (mit Sprache und Religion) (vgl. Huntington 1997: S. 94ff).

    Bildung vervielfältigt die Möglichkeiten zur Identitätskonstruktion und Distinktion: Individuelle Qualifikation schafft zusätzliche Unterscheidung. Je spezieller die Qualifikation, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, nur einer von vielen zu sein. Das wiederum entschärft möglicherweise die Wahrnehmung kultureller Unterschiede als letzte Rettung der eigenen Identität.

  • Bildung, wenn sie nicht ideologisch gefärbt ist, wirkt immer integrativ: Sie konfrontiert mit neuen (fremden) Sachverhalten und Ansichten und trainiert den objektiven Umgang mit empirisch erfassbaren (sozialen) Tatsachen.

  • Pragmatisch argumentiert ist es auch auf mangelnde (Aus- und Weiter-) Bildung im eigenen Land zurückzuführen, dass Industrie und Wirtschaft auf qualifizierte Immigranten angewiesen sind. Ein neues Visum für Hochqualifizierte soll die Zuwanderung von dringend benötigten Fachkräften fördern - und schürt damit wohl Angst bei jenen, die sich ohnehin schon benachteiligt fühlen (vgl. auch "Es fehlen die Fachkräfte").

  • Schließlich macht fundierte (Aus-) Bildung den Einzelnen (kognitiv wie ökonomisch) flexibler und wappnet für achso gefürchtete ausländische Konkurrenz am Arbeitsmarkt, sodass weder die wirtschaftliche Notwendigkeit geförderter Zuwanderung, noch Angst vor den vermeintlich "arbeitsplatzraubenden Ausländern" bestehen müsste.

  • Zeitgemäße Bildung würde außerdem dazu beitragen, die multikulturelle Segmentierung einer Gesellschaft als Vorteil im globalisierten Wettbewerb zu verstehen, anstatt sich von nationalistischer Angst-Propaganda lähmen zu lassen (zB. vgl. IHS-Bericht über Mitarbeiter mit Migrationshintergrund und vgl. "Fachwissen von Migranten ist ungenutzt").


  • Fakt ist jedenfalls auch, dass Xenophobie, also Fremdenangst bzw. -feindlichkeit, negativ mit dem Bildungsgrad dieserart ängstlichen Menschen zusammenhängt (vgl. Ganter 1998: S. 59 und vgl. "Fremdenfeindlichkeit: Bildung macht toleranter"). Gemessen daran also ist unser Bildungssystem dringend reformbedürftig.

    Bildungsreform à la FPÖ

    Was verspricht der Wiener Wahlgewinner, die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), zur Verbesserung der Bildungssituation? Ein Blick in das "Handbuch freiheitlicher Politik" offenbart ihr Bildungsverständnis:



  • Für den primären und sekundären Bildungssektor (Pflichtschule und weiterführende Schulen) fordert die FPÖ zB. einen Numerus Clausus bereits beim Übertritt in die AHS-Oberstufe (vgl. S. 231), sowie

  • die "Wiedereinführung der Beurteilung der äußeren Form der Arbeiten in der Pflichtschule und verpflichtende Verhaltensregeln mit entsprechenden Konsequenzen" (S. 231),

  • außerdem die Förderung von Privatschulen

  • und - ab einem bestimmten Schüler-/innen-Anteil - eigene Migrantenklassen.

  • Das Konzept der Ganztagesbetreuung wird lediglich im Zusammenhang mit finanziellen Mehrbelastungen für "kinderreiche Familien" erwähnt, ohne konkrete Vorschläge zu machen oder es explizit zu befürworten.

  • Die Reform des tertiären Bildungsbereichs (Unis und Fachhochschulen) beinhaltet nach Vorschlägen der FPÖ unter anderem, dass die bei der Matura absolvierten Prüfungsfächer die folgende Wahl des Hochschulstudiums einschränken ("mitbestimmen") sollen (vgl. S. 231f).

  • Die Forderung nach freiem Hochschulzugang wirkt angesichts der gewünschten Vorselektion bereits in der AHS als Alibi-Bemerkung.

  • "Zu den wichtigsten Bildungszielen gehören auch die Pflege der österreichischen Eigenart und die Erhaltung des kulturellen Erbes" (S. 230).


  • Kurz: Anstatt integrative Potenziale von Bildungsmaßnahmen und -einrichtungen zu nutzen, schlägt die FPÖ frühe Selektion und Desintegration vor, und mit einer Förderung von teuren Privatschulen die Auslagerung von Qualität, also die Verschärfung eines Zwei-Klassen-Bildungssystems (bereits bedingt durch sozioökonomische Faktoren). Umfassende Bildung bleibt diesem Modell zufolge ohnehin schon guten Pflichtschülern (Numerus Clausus) oder vermögenden Privatschülern vorbehalten.

    Seit Jahren weiss die Politik um die gravierenden Defizite im Bildungssystem. Eine Reform des österreichischen Bildungs- und Schulsystems lässt dennoch weiter auf sich warten. Dabei würde zB. die "Neue Mittelschule" - wie von der OECD vorgeschlagen - Chancengleichheit fördern und die Inklusivität des Bildungssystems erhöhen (vgl. OECD-Länderprüfungen. Migration und Bildung. Österreich, S. 9 u. S. 32).

    Über die Gründe dafür, warum sich die Verantwortlichen dieses Landes derart vehement gegen verbesserte Bildungsbedingungen für alle wehren, kann nur spekuliert werden. Fest steht: Eine Nation Gebildeter würde sich so eine Politik nicht gefallen lassen.

    Montag, 18. Oktober 2010

    Monolog

    Nur eins.

    Ich nutze mehr als einen TV-Kanal, lese (online) mehr als eine Zeitung, habe mehr als ein Zeitschriften-Abo, ich besitze mehr als ein Paar Schuhe, meine Peer-Group besteht aus mehr als nur einer weiteren Person, ich habe mehr als eine Uhr, die mir die Zeit verrät, und im Regal steht mehr als ein Buch zum Nachschlagen...

    ... warum sollte ich bei der Suche im World Wide Web nur eine einzige Meinung einholen?

    Sonntag, 16. Mai 2010

    iKritik

    Ein böses Wort: Internetkritik. Dabei hat ein bisschen Reflexion und Differenzierung noch keiner (Medien-) Entwicklung geschadet.

    Kritik (als "Kunst der Beurteilung") wird ja oft gleichgesetzt mit Schlechtmachen und Herabwürdigung. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Internet wird Medienkritik gerne als Technik- und Innovationsverweigerung verstanden. Kritische Betrachtungen haben allerdings per se nichts damit zu tun, ausschließlich Negatives aufzuzeigen und Innovationen zu verteufeln.

    Gerade die scheinbar uneingeschränkte Euphorie im Umgang mit dem "neuen", interaktiven, partizipativen Web und seinen Kommunikationstools verlangt nach Reflexion. Und die ist eine Frage des Perspektivenwechsels, der dringend notwendig ist, um Distanz (und größere Objektivität) zu gewinnen. Dieser Perspektivenwechsel wird aber vor allem dadurch erschwert, dass uns oft jene das Web zu erklären versuchen, die besonders große Vertrautheit damit vermitteln, weil sie in den Praktiken dieser spezifischen Mediennutzung sehr geübt sind (oder ihre Kompetenzen sogar monetarisieren). Dass beim Blick durch die rosarote Brille ein relativ einseitiges Bild der Nutzungsmöglichkeiten entsteht, ist ein logischer Nebeneffekt dieser "Aufklärung": Demokratisierung, Bürgerjournalismus, endlose Vernetzungsmöglichkeiten und barrierefreie soziale Interaktion werden als Vorzüge der neuen medialen Möglichkeiten gefeiert.

    Und jetzt: Perspektivenwechsel

    Was einst mit Web-Portalen auf Lycos und Yahoo! begann, fand seine Krönung in Facebook und Twitter: Individualisierung von Kommunikation und Information ist die eigentliche "Killer App" im Web. Das bedeutet: Jeder kann sich aussuchen, wer ihn worüber informiert - wann und wo.

    Klingt gut - und nach Informationsfreiheit -, lässt sich aber zum Beispiel nur sehr schwer mit den Ansprüchen an Demokratisierungsprozesse vereinbaren. In einer Gesellschaft, in der ein gemeinsam geteilter Bedeutungskonsens immer kleiner wird, lassen sich nur mehr schwer fundierte Mehrheiten finden, die für nachhaltige demokratische Entscheidungen notwendig sind. Soziale Realitäten erfahren eine Diversifizierung, die zwar temporäre Gemeinschaften (communites) zulassen - aber etwas Langfristiges wie "Gesellschaft"...? Erst Erwartungserwartungen von kollektiv geteiltem Wissen (das über Medien vermittelt wird) ermöglicht die Anschlussfähigkeit von Kommunikation (vgl. Schmidt 1998, S. 62) und die Konstituierung stabiler Gemeinschaften. In wie weit individualisierte Kommunikationsangebote im Web diese Voraussetzungen schaffen, ist - kritisch betrachtet - fraglich. Zumindest aber dürften sie der menschlichen Tendenz entsprechend, kognitive Dissonanzen zu vermeiden ("Wir bekommen heute nicht die Nachrichten, die wir brauchen, sondern die, die wir wollen.").

    Moderner Journalismus als Profession, gebunden an bestimmte Qualitätskriterien, ist (bisher noch) eng an traditionelle Massenmedien gekoppelt. Diese können / konnten (fiannziert durch Werbung) Leute dafür bezahlen, dass sie gründlich recherchieren, ihre Funde prüfen, nochmals prüfen und gegenprüfen, um am Ende dieses langwierigen Prozesses Nachrichten von (gesellschaftlicher oder fachspezifischer) Relevanz zu produzieren. Bürgerjournalismus bedient sich nun der zur Verfügung stehenden Publikationsmöglichkeiten im Web (das vielmehr Hybrid- als reines Massenmedium ist; vgl. Höflich 2003, S. 75ff), um zumeist nebenbei Entdecktes oder Beobachtetes - oft kommentiert - zu verbreiten.

    Insbesondere Twitter hat sich als (Pseudo-) "Nachrichtendienst" etabliert, wie die Ergebnisse einer koreanischen Studie nahe legen. Betrachtet man die "Nachrichten" auf Twitter allerdings kritisch, muss man sich Fragen wie diese stellen:

    Auf welche Quellen wird verwiesen (etwa klassische Medienorganisationen und Agenturen)? Nach welchen Kriterien wählen User aus, welche News sie verbreiten (Ideologien, Weltanschauung...)? Und welche Reichweite außerhalb Gleichgesinnter bzw. Peers haben diese Meldungen? Wie sehr sind "Nachrichten" auf Twitter kommentiert?

    Beide "Arten" journalistischer Publikation - ob von Profis oder Nutzern - haben informativen und/oder unterhaltsamen Wert, werden aber kaum konvergieren, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass wir uns zur unabhängigen Meinungsbildung auf Hobby-Redakteure verlassen möchten, die sich auf selbstreferenzielle "Meldung" aus ihrem "sozialen Netzwerk" beziehen (vgl. "Twitter - Selbstfindung 2.0?"). Woher kommen am Ende die News...?

    Zur sozialen Vernetzung muss man vor allen Dingen einmal eines: dabei sein können. Der technische Zugang zum "Social Web" alleine stellt noch keine hinreichende Voraussetzung dafür dar. Digitale Klüfte zwischen "informationsreichen" und "informationsarmen" Gesellschaftsschichten und -mitglieder sind wohl technisch- als auch kompetenz-bedingt (vgl. Zwiefka 2007). Die Nutzung plattform- und gruppenspezifischer Codes will gelernt sein. Distinktion könnte im Web sogar begünstigt werden und all jene an der viel gepriesenen Teilhabe hindern, die ihrer nicht mächtig sind, weil ihnen wichtige Kompetenzen fehlen (auch um die Qualität von Kommunikationen richtig zu bewerten).

    Und schließlich ist es gerade die Werbung, die auf das Wirkungspotenzial individueller Ansprache hofft. "Es gilt der Grundsatz, den Konsumenten bei seinen Bedürfnissen abzuholen" (Haderlein 2006, S. 21), und das bedeutet, für jedes Mitglied seiner Zielgruppe(n) - abhängig von Aufenthaltsort, Endgerät, Surfverhalten, Mitgliedschaften etc. - maßgeschneiderte Botschaften bereitzustellen. Gleichzeitig sollen dieser Individualität "Communities" mit Zusammengehörigkeitsgefühl entwachsen. Ein Widerspruch? Wie lässt sich Individuelles ("Unteilbares") vergemeinschaften? Wird die Marke zum systemspezifischen Code, und individualisierte Werbung zum stimulierenden Rauschen?

    Zusätzlich zur kritischen Betrachtung aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht bereitet der schwindende Datenschutz im Web Sorgen: "Facebook ist Stasi auf frewilliger Basis", witzelt Niavarani über das Personenregister, auf dem über 400 Millionen Nutzer monatlich 500 Milliarden Minuten verbringen (Stand: Mai 2010). Immer wieder macht das Parade-Social-Network Schlagzeilen mit bedenklichen Änderungen ihrer Datenschutz-Richtlinien. Es wächst das Verlangen nach offenen Alternativen.

    "Wo viel Licht ist, ist starker Schatten" (J. W. v. Goethe)

    Das Web bietet uns allen Erleichterung bei der Organisation unseres Alltags und der Pflege sozialer Kontakte. Es schafft bis dato ungeahnte Möglichkeiten und neue berufliche Betätigungsfelder. Bei allem Segen, den das neueste der neuen Medien manchen beschert, muss es erlaubt sein, über potenzielle Schattenseiten der medialen Entwicklung nachzudenken. Eine kritische - also differenzierte - Betrachtung zeigt, dass das "Social Web" nicht nur ungeheures Potenzial, sondern auch unheimliche Risiken in sich birgt (für Einzelne und die Gesellschaft). Wer das in seiner Euphorie nicht vergisst, kann für alle ein Maximum an Vorteilen generieren.

    Montag, 3. Mai 2010

    Österreich ist frei!

    Irgendwann in der Zukunft: Es ist endlich soweit! Die Medienkonsumenten dieses Landes erleben die lang ersehnte Befreiung vom Gängelband des lästigen Gebühren-Rundfunks.

    Das Leben ist teuer genug, abgesehen von der Zeit, die immer knapper wird und daher immer sorgfältiger verteilt werden muss - auf Facebook, Twitter, den Weblogs der Freunde. Und dann sind da natürlich noch die Lieblingsserien im TV, dessen Empfang - Gesetzesreformen sei Dank - endlich vollkommen kostenlos ist. Nach Jahren des harten Kampfes für eine Abschaffung der Zwangsgebühren an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bleibt am Ende des Monats mehr im Börserl, das sonst nur in die mangelhafte Programmgestaltung geflossen wäre:

    CSI, Dr. House, die Simpsons, Talk und Diskussionen - all das gab's ja ohnehin auch bei den Privaten, und zwar ohne Gebühren und teilweise viel spannender. Es war also höchste Zeit, endlich für Gerechtigkeit zu sorgen - auch für den ORF, der nun nicht mehr den Spagat schaffen muss zwischen aufgetragener Programmvielfalt und Wirtschaftlichkeit. Das Bisschen mehr an Werbung fällt kaum auf. Dass Krimis und Autorennen minutenlang unterbrochen werden, um die Zielgruppen für Bier und Klopapier zu begeistern, war man ebenfalls schon von den anderen gewohnt, und man hat gelernt, die wertvolle Zeit für ein Status-Update im Social Web zu nutzen. Manch einer allerdings weint dem Randgruppen-Radiosender Ö1 nach. Der hatte nun einmal kein relevantes Publikum, das man am Long Tail einer digitalisierten Wirtschaft mitschleifen könnte.

    Was sich allerdings gebessert hat, seitdem man sich auch beim ORF an Quoten orientieren muss - und nicht mehr senden kann, was man will, ohne Rücksicht darauf, ob's die Leute überhaupt interessiert -, sind die Nachrichtensendungen: Internationaler ausgerichtet, liefert nun auch die "Zeit im Bild" die spektakulärsten Bilder vom globalen Zeitgeschehen in unsere Wohnzimmer: herzzerreissende Pandabärgeburten, atemberaubende Achterbahneröffnungen, ekelig-faszinierende Hotdog-Verzehr-Weltrekorde, unbarmherzige Naturgewalten, Mord und Totschlag - Dinge eben, die unsere Gemüter wirklich bewegen. Kein langweiliges, unglaubwürdiges Politikergequassel mehr, keine Regierungspropaganda und oppositionelle Wahlschreierei. Auch die Informationssendungen der Privaten haben's leichter. Sie sind davon befreit, in Qualität und Themenauswahl ständig mit jenen des ORF verglichen zu werden. Infotainment und Infomercials funktionieren!

    Was wir zusätzlich über die Welt wissen wollen, das erfahren wir ohnehin im Web, in den Weblogs und Statusmeldungen der Freunde und Freundesfreunde, also quasi aus allererster Hand: da eine Demo, dort ein Protest, und im Schnellessrestaurant ums Eck heute viel zu fette Burger. Einige berichten in ihrer Freizeit sogar höchst seriös über politische Entwicklungen. Woher sie die Informationen nehmen? Wahrscheinlich von Bloggern und Freunden, die direkt vor Ort waren. Authentizität - und damit Wahrhaftigkeit - ist ja die große Stärke des aufkeimenden Bürgerjournalismus, der die professionellen Recycling- und Gefälligkeitsberichterstatter endlich vom Thron gestürzt hat. Auch der ORF sendet auf seinen übrig gebliebenen Kanälen in eigenen Programmen endlich lebensnahes Material seiner Seher (und -innen). Das ist wirklich unabhängige Information!

    Freilich, die so genannte "Elite" leistet sich das eine oder andere Medien-Abo, bezahlt auch noch für die Berichterstattung aus isolierten Redaktionen, von abgehobenen Redakteuren, die sich aufgrund der miesen Arbeitsverhältnisse alle von der Industrie kaufen lassen. Diese schützen dann ihre Bezahlinhalte auch noch mit allen Rechtsmitteln, weshalb sich schon so mancher Blogger für den Rest seines Lebens verschuldet hat, nachdem er einen der schicken News-Sender zitierte. In Wirklichkeit braucht der mündige Medien-Nutzer-Produzent aber nichts Anderes als sein soziales Netz, um alles Wichtige zu erfahren - und weiter zu verbreiten (Ehrensache!). Und um sich so seine eigene Meinung von der Welt und ihrer Gesellschaft zu bilden.

    Nach der anstrengende Meinungsbildung hat sich der Bürger am Ende des Tages etwas Unterhaltung verdient. Weil der ORF nun endlich nicht mehr durch gesetzliche Programmaufträge eingeschränkt ist, dürfen sich die Verantwortlichen guten Gewissens am Geschmack des Publikums orientieren und endlich zeigen, was gesehen werden will: top-aktuelle US-Serien, sensationelle Seher-Reportagen, Skandalberichterstattung aus der Welt der Schönen und Reichen, Talk zu Themen, die bewegen. Das lass' ich mir einreden, und gratis ist es obendrein!

    Vielleicht lernen die strauchelnden Zeitungen irgendwann auch das wirtschaftliche Überleben und nehmen sich ein Beispiel am Wandel des öffentlichen Rundfunks.


    Zur Meinungsbildung (bevor es andere für einen tun; eine Auswahl):

  • Parlamentarische Enquete (2009):
    "Öffentlich-rechtlicher Rundfunk - Medienvielfalt in Österreich"
    http://www.springerrecht.at/news/topthemen-leitthemen/parlamentarische-enquete-oeffentlich-rechtlicher-rundfunk-medienvielfalt-in-oesterreich/

  • Stenographisches Protokoll der parlamentarischen Enquete (2009):
    http://www.parlament.gv.at/PG/DE/XXIV/VER/VER_00002/fname_168905.pdf

  • Seminar (2001): Öffentlich-rechtlicher Rundfunk
    http://tud.at/publizistik/73langenbucher-venus.php

  • Bundesgesetz über den Österreichischen Rundfunk (ORF-Gesetz)
    http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000785

  • Empörung über höhere ORF-Gebühren (Kurier, 2007)
    http://kurier.at/kultur/111225.php

  • Regierung einigt sich auf ORF-Gesetz (Kurier, 2010)
    http://kurier.at/kultur/1980382.php

  • ORF (derStandard.at)
    http://derstandard.at/r1249/ORF?_chron=t

  • Wie professionell ist der Österreichische Rundfunk? (Die Presse, 2010)
    http://diepresse.com/home/kultur/medien/mediator/560636/index.do

  • ORF-Gesetz: Gegengeschäft mit dem ORF (Die Presse, 2010)
    http://diepresse.com/home/kultur/medien/558361/index.do

  • European Broadcasting Union
    • EBU Position Papers on Public Service Broadcasting
    http://www.ebu.ch/en/legal/position/psb/

    • Publications/Speeches
    http://www.ebu.ch/en/legal/other/

  • Hans-Bredow-Institut für Medienforschung (Hamburg):
    Öffentlicher Rundfunk im europäischen Vergleich
    http://www.psb-digital.eu/

  • Öffentlich-rechtliche Sender in Europa:
    http://en.wikipedia.org/wiki/Public_broadcasting#European

  • Mittwoch, 28. April 2010

    "Macht uns das Internet dumm?"

    Diese Frage erinnert an das Verblödungspotenzial, das einst auch dem Fernsehen zugeschrieben wurde, dem Personal Computer im Allgemeinen, oder Videospielen.

    Corinna Milborn frägt im nächsten "Club 2" des ORF danach, was Menschen dazu bringt, im Web intime Details aus ihrem Leben zu veröffentlichen, wie wichtig es als Kommunikationsmittel ist - und warum einige sogar von der "Verdummung" durch das Internet sprechen.

    Diese plakative Fragestellung verkürzt die Problematik freilich auf ein Maß, das ihrer Tragweite kaum gerecht wird. Schon vor Jahrzehnten hat man sich von derart eindimensionalen und unidirektionalen Sichtweisen in der Kommunikationswissenschaft verabschiedet (Stichwort: Uses and Gratification). Stattdessen ist es aus moderner Sicht viel naheliegender zu fragen: "Was machen wir Dummes mit dem Internet?"

    Wir füttern das Web mit subjektiven Eindrücken und unüberprüften Erkenntnissen und berufen uns zunehmend auf dieselben. Wir sprechen von "sozialen Netzen", wenn sich auf Web-Plattformen einzelne Nutzer bloß per Vermerk und Link als "Freunde" aufeinander beziehen: soziales Handeln wird auf einen Mausklick reduziert. Einzelne Meinungen und pseudosoziale Relationen erhalten einen höheren Stellenwert als die Bewertung von Informationen und Sachverhalten nach anerkannten und etablierten Kriterien (wie sie von klassischen Medien angewandt werden). Und am Ende des Tages fragen wir danach, wie böse und unmoralisch, suchterregend und verdummend das "Internet" auf uns einwirkt...

    Das Internet (also im Wesentlichen Web, eMail und Instant Messaging) ist einfach da - und es ist Teil unseres medialen Alltags. Es ist genauso sehr oder wenig verdummend wie eine Tageszeitung mit ihren ausgewählten Nachrichten und Meinungen, wie das Fernsehen mit all seinen Soaps, wie ein Comic-Heft mit bunten Bildchen, ein Ego-Shooter oder das Lesen auf Hörsaal-Bänken
    eingeritzter Botschaften. Es kommt einzig auf die individuelle Nutzung der jeweiligen Medien an und darauf, wie man darin liest, was man heraus liest - und schließlich darauf, dass man das Rezipierte einer reflektierten Bewertung zuführt.

    Dazu braucht es entsprechende Medienkompetenzen. Nur, wenn man ein Bewusstsein für Funktionsweisen und Mechanismen hinter dem Offensichtlichen entwickelt, kann man vermeiden, zu viel Dummes mit einem Medium anzustellen. Die fehlende Kompetenzvermittlung ist das zu diskutierende Problem, und das mangelhafte Bewusstsein für die Wichtigkeit, wahr und falsch, Gerücht und Faktum zu unterscheiden - oder diese Bewertung eben an jene zu delegieren, die den professionellen Umgang mit Bewertungen gelernt haben und ihre Tage damit verbringen.

    Man darf also gespannt sein, wie drei Journalisten, eine Datenschützerin, ein Psychiater und ein Blogger das komplexe Thema innerhalb nur einer Stunde aufarbeiten werden, ohne bloß die eigenen Tätigkeiten argumentativ zu legitimieren. Und ob Medienpsychologen, Mediensoziologen, Kommunikationswissenschaftler und "normale" Mediennutzer in der Diskussion so schmerzhaft fehlen werden, wie ich es befürchte.

    Dienstag, 16. März 2010

    Twitter - Selbstfindung 2.0?

    "Hört einen Tag mich, eine Stunde bloß,
    nur einen Augenblick, auf dass ich
    nicht vergeh' im Grauen wilder Einsamkeit!
    O Gott, ist niemand da,
    der mich hört?"


    Eine Hymne auf Twitter? Vor rund 2.000 Jahren formulierte Seneca, was heute kaum treffender gesagt werden könnte (zit. nach Schenk / Schenk 1998, S. 12). In der Zeit des "Social Web", einer omnipräsenten Eigenpublizität, ist Kommunikation ein allgegenwärtiger Imperativ - communicato!

    Und es stellt sich mir die Frage, wieso und wozu wir "Statusmeldungen", persönliche Ansichten oder Appelle an die community in 140-Zeichen-Korsetts pressen, Leser, Klicks und Abonnenten zählen und uns dadurch am Ende des Tages - vielleicht - in irgendeiner Form bereichert fühlen.

    Nutze!

    Oft wird er gepriesen, der mögliche kommerzielle Nutzen von Microblogging. Die unzähligen Agenturen und Web-2.0-Dienstleister wittern neue Betätigungsfelder und Einnahmequellen, Kleinunternehmen sehen in Twitter einen kostenlosen Werbekanal mit enormer Reichweite und Suchmaschinen erweitern ihr Angebot um die "Echtzeit-Suche". Aber wie viele Geschäftskontakte haben sich auf Twitter angebahnt, und wer liest schon - geschweige denn reagiert auf - die unzähligen einzelunternehmerischen Selbstreferenzen, manchmal wegen des Platzmangels aufs Unverständlichste komprimiert? Wie viel Fachkompetenz lässt sich mit 140 Zeichen (im Idealfall weniger) vermitteln, um damit für sich und seine Angebote zu werben?

    Und was ist der mögliche Nutzen für jeden Einzelnen? Wie viele Freundschaften (im ehemaligen Sinn) werden auf Twitter geschlossen oder gepflegt? Wenn der kommerzielle Nutzen zweifelhaft ist, wie wahrscheinlich ist ein individueller?

    Twitter mag rein technisch als praktisches Surf-Logbuch dienen, um Notizen, Gedanken und Adressen während des Websurfens zentral abzulegen und gleichzeitig Bekannten und Freunden zugänglich zu machen. Es mag ein netter Zeitvertreib sein mit dem Potenzial, für interessante Verweise und bissige Kommentare soziale Anerkennung zu erwerben (operante Konditionierung). Was es vielleicht aber am ehesten ist: ein Tool für die Kommunikation mit sich selbst.

    "Erst in der Kommunikation erfahren (und erleben) Sprecher, was sie gemeint haben, als sie gesagt haben, was sie gesagt haben," erklärt Sigfried J. Schmidt die Kopplung von Kommunikation und Kognition (1998, S. 61). Er verweist damit auf eine "Realität" als eine "in der Kommunikation [...] erzeugte [...] Wirklichkeit kollektiven Wissens über die Wirklichkeit" (1998, S. 63). Kommunikation - auch die mit sich selbst - erzeugt und bestätigt eine Wirklichkeit, die sich je nach Vernetzungsgrad zwischen Kollektivität und Individualität bewegt. Die Kommunikation mit sich selbst findet auch dann statt, wenn einem - wie auf Twitter - eine mehr oder weniger disperse potenzielle Leserschaft gegenüber steht. In Medien (nicht nur auf Twitter) entsteht das, was wir "Realität" nennen also "als Resultat der sich selbst bestätigenden Selbstreferenz und Selbstorganisation [...] [von] Kultur" (als Werte- und Symbolsystem; 1998, S. 66).

    (Selbst-) Referenz

    Vielleicht ist der individuelle Nutzen von Twitter und anderen "Social Web"-Diensten weniger die soziale Vernetzung (die in Anbetracht ihrer Flüchtigkeit und Unverbindlichkeit maximal eine pseudosoziale sein kann), sondern die durch die ständige Selbst- und Fremdreferenz ermöglichte Wirklichkeitskonstruktion sowie die Vergewisserung des eigenen Selbst - also der eigenen, immer wieder aufs Neue auszuhandelnden oder zu bestätigenden Identität(en). Dies geschieht - wenn man sich an Martin Bubers Ich-Du-Dialektik orientiert - vor allem am virtuellen Gegenüber im Web 2.0: "Der Mensch wird am Du zum Ich", wie es Buber (1958, S. 29) existenzphilosophisch formuliert.

    Twitter als referenzielles Tool zur Identitäts- und Wirklichkeitskonstruktion? Der Psychologe Carl Rogers würde den öffentlichen Kurznachrichten vielleicht sogar therapeutische Wirkung zuschreiben, denn durch intensives "Auf-sich-Hören" - einer Art existenzieller Kommunikation mit meinem Selbst - setzt Selbstfindung ein, die Rogers einen "Prozess der Möglichkeiten" (1973, S. 172) nennt; als hätte er sich direkt auf heutige Kommunikationstechnologien bezogenen, deren signifikanteste Besonderheit ihre Virtualität darstellt ("Das Virtuelle ist das Mögliche, das jederzeit und überall auch anders Mögliche", Kamper).

    Theoretisch weiter gesponnen, schließt sich somit der Kreis von der intra-individuellen Kommunikation auf Twitter über ihre Selbstreferenz und doppelten Kontingenz (Virtualität) bis zur systemtheortischen Erkenntnis, dass die kleinsten Einheiten einer Gesellschaft (oder "community") nicht Individuen, sondern Kommunikationen sind. Und für den Bezug auf binäre Codes reichen 140 Zeichen allemal...

    Vorsicht! Tabubruch

    Der für mich einzige sichtbare Nutzen von Twitter (oder dem "Social Web" im Allgemeinen) besteht daher in der individuellen Realitätskonstruktion und in der Definition einer mehr oder weniger bewusst gewählten Systemzugehörigkeit. Plattformen wie Twitter sind der Inbegriff von Distinktion, Ausschluss, Codes (im doppelten Sinn) und Referenz zur Konstitution von Sinn und Bedeutung (wer "folgt" wem, wem "folge" ich, welche sind passende / anerkannte "hash tags" etc.). In der Euphorie wird die daraus resultierende Problematik gerne übersehen:

    Neue Kommunikationstechnologien sind nicht ausschließlich vorteilbehaftet. Die erwähnten Funktionen des Microblogging haben - wie gesagt - durchaus ihren Nutzen. Tweets schrauben aber wie kaum eine andere Kommunikationstechnologie an der sozialen und kulturellen Basis: Sprache wird der Technologie angepasst (zB. komprimiert), die Anschlussfähigkeit von Mitteilungen wird zunehmend formal durch Hyperlinks und kategorisierte Schlagworte hergestellt anstatt über gemeinsame Wissensbezüge und kollektiv geteilte Symbole (Kultur). Diskurse, länger als ein paar Tweets (und in Summe ein paar Hundert Zeichen) sind technologiebedingt unwahrscheinlich. Droht ein Defizit an gesellschaftlich notwendiger Kommunikationskompetenz, wenn Aufmerksamkeitsspannen, Ausdauer und Interessensspektren schrumpfen?

    Es ergibt sich die interessante Überlegung, in wie weit eine immer höher-gradig individualisierte und individualisierende Kommunikation (auf Twitter & Co.) zu immer stärker fragmentierten Sub-Systemen führt (im Extremfall so viele Sub-Systeme wie quasi mit sich selbst kommunizierende Individuen). Wird es den unter Publikumschwund leidenden traditionellen Massenmedien gelingen, all die gesellschaftlichen Sub-Systeme zu "synchronisieren" (vgl. Jarren 2008; PDF), hinsichtlich der für alle Gesellschaftsmitglieder relevanten Themen zu orientieren (um zB. demokratische Entscheidungsprozesse mit mehrheitlich akzeptierten Ergebnissen zu ermöglichen)?

    Wichtige, gesellschaftspolitische und soziale Funktionen erfüllt Twitter - meiner Meinung nach - (noch) nicht. Bei der Vielfalt und Flüchtigkeit von Interkationsangeboten und -partnern sollte man auch keine allzu große "Werbewirkung" erwarten. Viel augenscheinlicher sind Twitters individuell nützliche Funktionen zur Wahrnehmung (Konstruktion) von Wirklichkeit und des eigenen Selbst, zum Kennenlernen und Gestalten der eigenen Identität(en). "Social Media ist [...] die logische Fortsetzung grundsätzlicher sozialer Bedürfnisse von Menschen" (Nelles, nach Jacobsen 2009), den Bedürfnissen also, am virtuellen Anderen "Ich" zu werden - was uns Twitter, Facebook & Co. nun immer und überall quasi auf Knopfdruck ermöglichen. Selbstfindung 2.0...?


    Zum Nachlesen

    Buber, Martin: Ich und Du; Sonderausgabe zu Martin Bubers achtzigstem Geburtstag am 8. Februar 1958; Um ein Nachwort erw. Neuausg.; Schneider Verlag, 1958

    Jarren, Ottfried: Massenmedien als Intermediäre. Zur anhaltenden Relevanz der Massenmedien für die öffentliche Kommunikation;
    in: M&K - Medien & Kommunikationswissenschaft, 56. Jg., Heft 3-4 2008; S. 329 - 346

    Krämer, Sybille (Hsg): Medien - Computer - Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien; Suhrkamp, 1998

    Rogers, Carl R.: Entwicklung der Persönlichkeit: Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten; Ernst Klett Verlag, 1973