Montag, 3. Mai 2010

Österreich ist frei!

Irgendwann in der Zukunft: Es ist endlich soweit! Die Medienkonsumenten dieses Landes erleben die lang ersehnte Befreiung vom Gängelband des lästigen Gebühren-Rundfunks.

Das Leben ist teuer genug, abgesehen von der Zeit, die immer knapper wird und daher immer sorgfältiger verteilt werden muss - auf Facebook, Twitter, den Weblogs der Freunde. Und dann sind da natürlich noch die Lieblingsserien im TV, dessen Empfang - Gesetzesreformen sei Dank - endlich vollkommen kostenlos ist. Nach Jahren des harten Kampfes für eine Abschaffung der Zwangsgebühren an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bleibt am Ende des Monats mehr im Börserl, das sonst nur in die mangelhafte Programmgestaltung geflossen wäre:

CSI, Dr. House, die Simpsons, Talk und Diskussionen - all das gab's ja ohnehin auch bei den Privaten, und zwar ohne Gebühren und teilweise viel spannender. Es war also höchste Zeit, endlich für Gerechtigkeit zu sorgen - auch für den ORF, der nun nicht mehr den Spagat schaffen muss zwischen aufgetragener Programmvielfalt und Wirtschaftlichkeit. Das Bisschen mehr an Werbung fällt kaum auf. Dass Krimis und Autorennen minutenlang unterbrochen werden, um die Zielgruppen für Bier und Klopapier zu begeistern, war man ebenfalls schon von den anderen gewohnt, und man hat gelernt, die wertvolle Zeit für ein Status-Update im Social Web zu nutzen. Manch einer allerdings weint dem Randgruppen-Radiosender Ö1 nach. Der hatte nun einmal kein relevantes Publikum, das man am Long Tail einer digitalisierten Wirtschaft mitschleifen könnte.

Was sich allerdings gebessert hat, seitdem man sich auch beim ORF an Quoten orientieren muss - und nicht mehr senden kann, was man will, ohne Rücksicht darauf, ob's die Leute überhaupt interessiert -, sind die Nachrichtensendungen: Internationaler ausgerichtet, liefert nun auch die "Zeit im Bild" die spektakulärsten Bilder vom globalen Zeitgeschehen in unsere Wohnzimmer: herzzerreissende Pandabärgeburten, atemberaubende Achterbahneröffnungen, ekelig-faszinierende Hotdog-Verzehr-Weltrekorde, unbarmherzige Naturgewalten, Mord und Totschlag - Dinge eben, die unsere Gemüter wirklich bewegen. Kein langweiliges, unglaubwürdiges Politikergequassel mehr, keine Regierungspropaganda und oppositionelle Wahlschreierei. Auch die Informationssendungen der Privaten haben's leichter. Sie sind davon befreit, in Qualität und Themenauswahl ständig mit jenen des ORF verglichen zu werden. Infotainment und Infomercials funktionieren!

Was wir zusätzlich über die Welt wissen wollen, das erfahren wir ohnehin im Web, in den Weblogs und Statusmeldungen der Freunde und Freundesfreunde, also quasi aus allererster Hand: da eine Demo, dort ein Protest, und im Schnellessrestaurant ums Eck heute viel zu fette Burger. Einige berichten in ihrer Freizeit sogar höchst seriös über politische Entwicklungen. Woher sie die Informationen nehmen? Wahrscheinlich von Bloggern und Freunden, die direkt vor Ort waren. Authentizität - und damit Wahrhaftigkeit - ist ja die große Stärke des aufkeimenden Bürgerjournalismus, der die professionellen Recycling- und Gefälligkeitsberichterstatter endlich vom Thron gestürzt hat. Auch der ORF sendet auf seinen übrig gebliebenen Kanälen in eigenen Programmen endlich lebensnahes Material seiner Seher (und -innen). Das ist wirklich unabhängige Information!

Freilich, die so genannte "Elite" leistet sich das eine oder andere Medien-Abo, bezahlt auch noch für die Berichterstattung aus isolierten Redaktionen, von abgehobenen Redakteuren, die sich aufgrund der miesen Arbeitsverhältnisse alle von der Industrie kaufen lassen. Diese schützen dann ihre Bezahlinhalte auch noch mit allen Rechtsmitteln, weshalb sich schon so mancher Blogger für den Rest seines Lebens verschuldet hat, nachdem er einen der schicken News-Sender zitierte. In Wirklichkeit braucht der mündige Medien-Nutzer-Produzent aber nichts Anderes als sein soziales Netz, um alles Wichtige zu erfahren - und weiter zu verbreiten (Ehrensache!). Und um sich so seine eigene Meinung von der Welt und ihrer Gesellschaft zu bilden.

Nach der anstrengende Meinungsbildung hat sich der Bürger am Ende des Tages etwas Unterhaltung verdient. Weil der ORF nun endlich nicht mehr durch gesetzliche Programmaufträge eingeschränkt ist, dürfen sich die Verantwortlichen guten Gewissens am Geschmack des Publikums orientieren und endlich zeigen, was gesehen werden will: top-aktuelle US-Serien, sensationelle Seher-Reportagen, Skandalberichterstattung aus der Welt der Schönen und Reichen, Talk zu Themen, die bewegen. Das lass' ich mir einreden, und gratis ist es obendrein!

Vielleicht lernen die strauchelnden Zeitungen irgendwann auch das wirtschaftliche Überleben und nehmen sich ein Beispiel am Wandel des öffentlichen Rundfunks.


Zur Meinungsbildung (bevor es andere für einen tun; eine Auswahl):

  • Parlamentarische Enquete (2009):
    "Öffentlich-rechtlicher Rundfunk - Medienvielfalt in Österreich"
    http://www.springerrecht.at/news/topthemen-leitthemen/parlamentarische-enquete-oeffentlich-rechtlicher-rundfunk-medienvielfalt-in-oesterreich/

  • Stenographisches Protokoll der parlamentarischen Enquete (2009):
    http://www.parlament.gv.at/PG/DE/XXIV/VER/VER_00002/fname_168905.pdf

  • Seminar (2001): Öffentlich-rechtlicher Rundfunk
    http://tud.at/publizistik/73langenbucher-venus.php

  • Bundesgesetz über den Österreichischen Rundfunk (ORF-Gesetz)
    http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000785

  • Empörung über höhere ORF-Gebühren (Kurier, 2007)
    http://kurier.at/kultur/111225.php

  • Regierung einigt sich auf ORF-Gesetz (Kurier, 2010)
    http://kurier.at/kultur/1980382.php

  • ORF (derStandard.at)
    http://derstandard.at/r1249/ORF?_chron=t

  • Wie professionell ist der Österreichische Rundfunk? (Die Presse, 2010)
    http://diepresse.com/home/kultur/medien/mediator/560636/index.do

  • ORF-Gesetz: Gegengeschäft mit dem ORF (Die Presse, 2010)
    http://diepresse.com/home/kultur/medien/558361/index.do

  • European Broadcasting Union
    • EBU Position Papers on Public Service Broadcasting
    http://www.ebu.ch/en/legal/position/psb/

    • Publications/Speeches
    http://www.ebu.ch/en/legal/other/

  • Hans-Bredow-Institut für Medienforschung (Hamburg):
    Öffentlicher Rundfunk im europäischen Vergleich
    http://www.psb-digital.eu/

  • Öffentlich-rechtliche Sender in Europa:
    http://en.wikipedia.org/wiki/Public_broadcasting#European

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