Sonntag, 16. Mai 2010

iKritik

Ein böses Wort: Internetkritik. Dabei hat ein bisschen Reflexion und Differenzierung noch keiner (Medien-) Entwicklung geschadet.

Kritik (als "Kunst der Beurteilung") wird ja oft gleichgesetzt mit Schlechtmachen und Herabwürdigung. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Internet wird Medienkritik gerne als Technik- und Innovationsverweigerung verstanden. Kritische Betrachtungen haben allerdings per se nichts damit zu tun, ausschließlich Negatives aufzuzeigen und Innovationen zu verteufeln.

Gerade die scheinbar uneingeschränkte Euphorie im Umgang mit dem "neuen", interaktiven, partizipativen Web und seinen Kommunikationstools verlangt nach Reflexion. Und die ist eine Frage des Perspektivenwechsels, der dringend notwendig ist, um Distanz (und größere Objektivität) zu gewinnen. Dieser Perspektivenwechsel wird aber vor allem dadurch erschwert, dass uns oft jene das Web zu erklären versuchen, die besonders große Vertrautheit damit vermitteln, weil sie in den Praktiken dieser spezifischen Mediennutzung sehr geübt sind (oder ihre Kompetenzen sogar monetarisieren). Dass beim Blick durch die rosarote Brille ein relativ einseitiges Bild der Nutzungsmöglichkeiten entsteht, ist ein logischer Nebeneffekt dieser "Aufklärung": Demokratisierung, Bürgerjournalismus, endlose Vernetzungsmöglichkeiten und barrierefreie soziale Interaktion werden als Vorzüge der neuen medialen Möglichkeiten gefeiert.

Und jetzt: Perspektivenwechsel

Was einst mit Web-Portalen auf Lycos und Yahoo! begann, fand seine Krönung in Facebook und Twitter: Individualisierung von Kommunikation und Information ist die eigentliche "Killer App" im Web. Das bedeutet: Jeder kann sich aussuchen, wer ihn worüber informiert - wann und wo.

Klingt gut - und nach Informationsfreiheit -, lässt sich aber zum Beispiel nur sehr schwer mit den Ansprüchen an Demokratisierungsprozesse vereinbaren. In einer Gesellschaft, in der ein gemeinsam geteilter Bedeutungskonsens immer kleiner wird, lassen sich nur mehr schwer fundierte Mehrheiten finden, die für nachhaltige demokratische Entscheidungen notwendig sind. Soziale Realitäten erfahren eine Diversifizierung, die zwar temporäre Gemeinschaften (communites) zulassen - aber etwas Langfristiges wie "Gesellschaft"...? Erst Erwartungserwartungen von kollektiv geteiltem Wissen (das über Medien vermittelt wird) ermöglicht die Anschlussfähigkeit von Kommunikation (vgl. Schmidt 1998, S. 62) und die Konstituierung stabiler Gemeinschaften. In wie weit individualisierte Kommunikationsangebote im Web diese Voraussetzungen schaffen, ist - kritisch betrachtet - fraglich. Zumindest aber dürften sie der menschlichen Tendenz entsprechend, kognitive Dissonanzen zu vermeiden ("Wir bekommen heute nicht die Nachrichten, die wir brauchen, sondern die, die wir wollen.").

Moderner Journalismus als Profession, gebunden an bestimmte Qualitätskriterien, ist (bisher noch) eng an traditionelle Massenmedien gekoppelt. Diese können / konnten (fiannziert durch Werbung) Leute dafür bezahlen, dass sie gründlich recherchieren, ihre Funde prüfen, nochmals prüfen und gegenprüfen, um am Ende dieses langwierigen Prozesses Nachrichten von (gesellschaftlicher oder fachspezifischer) Relevanz zu produzieren. Bürgerjournalismus bedient sich nun der zur Verfügung stehenden Publikationsmöglichkeiten im Web (das vielmehr Hybrid- als reines Massenmedium ist; vgl. Höflich 2003, S. 75ff), um zumeist nebenbei Entdecktes oder Beobachtetes - oft kommentiert - zu verbreiten.

Insbesondere Twitter hat sich als (Pseudo-) "Nachrichtendienst" etabliert, wie die Ergebnisse einer koreanischen Studie nahe legen. Betrachtet man die "Nachrichten" auf Twitter allerdings kritisch, muss man sich Fragen wie diese stellen:

Auf welche Quellen wird verwiesen (etwa klassische Medienorganisationen und Agenturen)? Nach welchen Kriterien wählen User aus, welche News sie verbreiten (Ideologien, Weltanschauung...)? Und welche Reichweite außerhalb Gleichgesinnter bzw. Peers haben diese Meldungen? Wie sehr sind "Nachrichten" auf Twitter kommentiert?

Beide "Arten" journalistischer Publikation - ob von Profis oder Nutzern - haben informativen und/oder unterhaltsamen Wert, werden aber kaum konvergieren, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass wir uns zur unabhängigen Meinungsbildung auf Hobby-Redakteure verlassen möchten, die sich auf selbstreferenzielle "Meldung" aus ihrem "sozialen Netzwerk" beziehen (vgl. "Twitter - Selbstfindung 2.0?"). Woher kommen am Ende die News...?

Zur sozialen Vernetzung muss man vor allen Dingen einmal eines: dabei sein können. Der technische Zugang zum "Social Web" alleine stellt noch keine hinreichende Voraussetzung dafür dar. Digitale Klüfte zwischen "informationsreichen" und "informationsarmen" Gesellschaftsschichten und -mitglieder sind wohl technisch- als auch kompetenz-bedingt (vgl. Zwiefka 2007). Die Nutzung plattform- und gruppenspezifischer Codes will gelernt sein. Distinktion könnte im Web sogar begünstigt werden und all jene an der viel gepriesenen Teilhabe hindern, die ihrer nicht mächtig sind, weil ihnen wichtige Kompetenzen fehlen (auch um die Qualität von Kommunikationen richtig zu bewerten).

Und schließlich ist es gerade die Werbung, die auf das Wirkungspotenzial individueller Ansprache hofft. "Es gilt der Grundsatz, den Konsumenten bei seinen Bedürfnissen abzuholen" (Haderlein 2006, S. 21), und das bedeutet, für jedes Mitglied seiner Zielgruppe(n) - abhängig von Aufenthaltsort, Endgerät, Surfverhalten, Mitgliedschaften etc. - maßgeschneiderte Botschaften bereitzustellen. Gleichzeitig sollen dieser Individualität "Communities" mit Zusammengehörigkeitsgefühl entwachsen. Ein Widerspruch? Wie lässt sich Individuelles ("Unteilbares") vergemeinschaften? Wird die Marke zum systemspezifischen Code, und individualisierte Werbung zum stimulierenden Rauschen?

Zusätzlich zur kritischen Betrachtung aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht bereitet der schwindende Datenschutz im Web Sorgen: "Facebook ist Stasi auf frewilliger Basis", witzelt Niavarani über das Personenregister, auf dem über 400 Millionen Nutzer monatlich 500 Milliarden Minuten verbringen (Stand: Mai 2010). Immer wieder macht das Parade-Social-Network Schlagzeilen mit bedenklichen Änderungen ihrer Datenschutz-Richtlinien. Es wächst das Verlangen nach offenen Alternativen.

"Wo viel Licht ist, ist starker Schatten" (J. W. v. Goethe)

Das Web bietet uns allen Erleichterung bei der Organisation unseres Alltags und der Pflege sozialer Kontakte. Es schafft bis dato ungeahnte Möglichkeiten und neue berufliche Betätigungsfelder. Bei allem Segen, den das neueste der neuen Medien manchen beschert, muss es erlaubt sein, über potenzielle Schattenseiten der medialen Entwicklung nachzudenken. Eine kritische - also differenzierte - Betrachtung zeigt, dass das "Social Web" nicht nur ungeheures Potenzial, sondern auch unheimliche Risiken in sich birgt (für Einzelne und die Gesellschaft). Wer das in seiner Euphorie nicht vergisst, kann für alle ein Maximum an Vorteilen generieren.

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