Dienstag, 16. März 2010

Twitter - Selbstfindung 2.0?

"Hört einen Tag mich, eine Stunde bloß,
nur einen Augenblick, auf dass ich
nicht vergeh' im Grauen wilder Einsamkeit!
O Gott, ist niemand da,
der mich hört?"


Eine Hymne auf Twitter? Vor rund 2.000 Jahren formulierte Seneca, was heute kaum treffender gesagt werden könnte (zit. nach Schenk / Schenk 1998, S. 12). In der Zeit des "Social Web", einer omnipräsenten Eigenpublizität, ist Kommunikation ein allgegenwärtiger Imperativ - communicato!

Und es stellt sich mir die Frage, wieso und wozu wir "Statusmeldungen", persönliche Ansichten oder Appelle an die community in 140-Zeichen-Korsetts pressen, Leser, Klicks und Abonnenten zählen und uns dadurch am Ende des Tages - vielleicht - in irgendeiner Form bereichert fühlen.

Nutze!

Oft wird er gepriesen, der mögliche kommerzielle Nutzen von Microblogging. Die unzähligen Agenturen und Web-2.0-Dienstleister wittern neue Betätigungsfelder und Einnahmequellen, Kleinunternehmen sehen in Twitter einen kostenlosen Werbekanal mit enormer Reichweite und Suchmaschinen erweitern ihr Angebot um die "Echtzeit-Suche". Aber wie viele Geschäftskontakte haben sich auf Twitter angebahnt, und wer liest schon - geschweige denn reagiert auf - die unzähligen einzelunternehmerischen Selbstreferenzen, manchmal wegen des Platzmangels aufs Unverständlichste komprimiert? Wie viel Fachkompetenz lässt sich mit 140 Zeichen (im Idealfall weniger) vermitteln, um damit für sich und seine Angebote zu werben?

Und was ist der mögliche Nutzen für jeden Einzelnen? Wie viele Freundschaften (im ehemaligen Sinn) werden auf Twitter geschlossen oder gepflegt? Wenn der kommerzielle Nutzen zweifelhaft ist, wie wahrscheinlich ist ein individueller?

Twitter mag rein technisch als praktisches Surf-Logbuch dienen, um Notizen, Gedanken und Adressen während des Websurfens zentral abzulegen und gleichzeitig Bekannten und Freunden zugänglich zu machen. Es mag ein netter Zeitvertreib sein mit dem Potenzial, für interessante Verweise und bissige Kommentare soziale Anerkennung zu erwerben (operante Konditionierung). Was es vielleicht aber am ehesten ist: ein Tool für die Kommunikation mit sich selbst.

"Erst in der Kommunikation erfahren (und erleben) Sprecher, was sie gemeint haben, als sie gesagt haben, was sie gesagt haben," erklärt Sigfried J. Schmidt die Kopplung von Kommunikation und Kognition (1998, S. 61). Er verweist damit auf eine "Realität" als eine "in der Kommunikation [...] erzeugte [...] Wirklichkeit kollektiven Wissens über die Wirklichkeit" (1998, S. 63). Kommunikation - auch die mit sich selbst - erzeugt und bestätigt eine Wirklichkeit, die sich je nach Vernetzungsgrad zwischen Kollektivität und Individualität bewegt. Die Kommunikation mit sich selbst findet auch dann statt, wenn einem - wie auf Twitter - eine mehr oder weniger disperse potenzielle Leserschaft gegenüber steht. In Medien (nicht nur auf Twitter) entsteht das, was wir "Realität" nennen also "als Resultat der sich selbst bestätigenden Selbstreferenz und Selbstorganisation [...] [von] Kultur" (als Werte- und Symbolsystem; 1998, S. 66).

(Selbst-) Referenz

Vielleicht ist der individuelle Nutzen von Twitter und anderen "Social Web"-Diensten weniger die soziale Vernetzung (die in Anbetracht ihrer Flüchtigkeit und Unverbindlichkeit maximal eine pseudosoziale sein kann), sondern die durch die ständige Selbst- und Fremdreferenz ermöglichte Wirklichkeitskonstruktion sowie die Vergewisserung des eigenen Selbst - also der eigenen, immer wieder aufs Neue auszuhandelnden oder zu bestätigenden Identität(en). Dies geschieht - wenn man sich an Martin Bubers Ich-Du-Dialektik orientiert - vor allem am virtuellen Gegenüber im Web 2.0: "Der Mensch wird am Du zum Ich", wie es Buber (1958, S. 29) existenzphilosophisch formuliert.

Twitter als referenzielles Tool zur Identitäts- und Wirklichkeitskonstruktion? Der Psychologe Carl Rogers würde den öffentlichen Kurznachrichten vielleicht sogar therapeutische Wirkung zuschreiben, denn durch intensives "Auf-sich-Hören" - einer Art existenzieller Kommunikation mit meinem Selbst - setzt Selbstfindung ein, die Rogers einen "Prozess der Möglichkeiten" (1973, S. 172) nennt; als hätte er sich direkt auf heutige Kommunikationstechnologien bezogenen, deren signifikanteste Besonderheit ihre Virtualität darstellt ("Das Virtuelle ist das Mögliche, das jederzeit und überall auch anders Mögliche", Kamper).

Theoretisch weiter gesponnen, schließt sich somit der Kreis von der intra-individuellen Kommunikation auf Twitter über ihre Selbstreferenz und doppelten Kontingenz (Virtualität) bis zur systemtheortischen Erkenntnis, dass die kleinsten Einheiten einer Gesellschaft (oder "community") nicht Individuen, sondern Kommunikationen sind. Und für den Bezug auf binäre Codes reichen 140 Zeichen allemal...

Vorsicht! Tabubruch

Der für mich einzige sichtbare Nutzen von Twitter (oder dem "Social Web" im Allgemeinen) besteht daher in der individuellen Realitätskonstruktion und in der Definition einer mehr oder weniger bewusst gewählten Systemzugehörigkeit. Plattformen wie Twitter sind der Inbegriff von Distinktion, Ausschluss, Codes (im doppelten Sinn) und Referenz zur Konstitution von Sinn und Bedeutung (wer "folgt" wem, wem "folge" ich, welche sind passende / anerkannte "hash tags" etc.). In der Euphorie wird die daraus resultierende Problematik gerne übersehen:

Neue Kommunikationstechnologien sind nicht ausschließlich vorteilbehaftet. Die erwähnten Funktionen des Microblogging haben - wie gesagt - durchaus ihren Nutzen. Tweets schrauben aber wie kaum eine andere Kommunikationstechnologie an der sozialen und kulturellen Basis: Sprache wird der Technologie angepasst (zB. komprimiert), die Anschlussfähigkeit von Mitteilungen wird zunehmend formal durch Hyperlinks und kategorisierte Schlagworte hergestellt anstatt über gemeinsame Wissensbezüge und kollektiv geteilte Symbole (Kultur). Diskurse, länger als ein paar Tweets (und in Summe ein paar Hundert Zeichen) sind technologiebedingt unwahrscheinlich. Droht ein Defizit an gesellschaftlich notwendiger Kommunikationskompetenz, wenn Aufmerksamkeitsspannen, Ausdauer und Interessensspektren schrumpfen?

Es ergibt sich die interessante Überlegung, in wie weit eine immer höher-gradig individualisierte und individualisierende Kommunikation (auf Twitter & Co.) zu immer stärker fragmentierten Sub-Systemen führt (im Extremfall so viele Sub-Systeme wie quasi mit sich selbst kommunizierende Individuen). Wird es den unter Publikumschwund leidenden traditionellen Massenmedien gelingen, all die gesellschaftlichen Sub-Systeme zu "synchronisieren" (vgl. Jarren 2008; PDF), hinsichtlich der für alle Gesellschaftsmitglieder relevanten Themen zu orientieren (um zB. demokratische Entscheidungsprozesse mit mehrheitlich akzeptierten Ergebnissen zu ermöglichen)?

Wichtige, gesellschaftspolitische und soziale Funktionen erfüllt Twitter - meiner Meinung nach - (noch) nicht. Bei der Vielfalt und Flüchtigkeit von Interkationsangeboten und -partnern sollte man auch keine allzu große "Werbewirkung" erwarten. Viel augenscheinlicher sind Twitters individuell nützliche Funktionen zur Wahrnehmung (Konstruktion) von Wirklichkeit und des eigenen Selbst, zum Kennenlernen und Gestalten der eigenen Identität(en). "Social Media ist [...] die logische Fortsetzung grundsätzlicher sozialer Bedürfnisse von Menschen" (Nelles, nach Jacobsen 2009), den Bedürfnissen also, am virtuellen Anderen "Ich" zu werden - was uns Twitter, Facebook & Co. nun immer und überall quasi auf Knopfdruck ermöglichen. Selbstfindung 2.0...?


Zum Nachlesen

Buber, Martin: Ich und Du; Sonderausgabe zu Martin Bubers achtzigstem Geburtstag am 8. Februar 1958; Um ein Nachwort erw. Neuausg.; Schneider Verlag, 1958

Jarren, Ottfried: Massenmedien als Intermediäre. Zur anhaltenden Relevanz der Massenmedien für die öffentliche Kommunikation;
in: M&K - Medien & Kommunikationswissenschaft, 56. Jg., Heft 3-4 2008; S. 329 - 346

Krämer, Sybille (Hsg): Medien - Computer - Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien; Suhrkamp, 1998

Rogers, Carl R.: Entwicklung der Persönlichkeit: Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten; Ernst Klett Verlag, 1973

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